Kalendergedichte | 17. Dezember
Miriam Tag | "Philemon, Baucis und ich"
Philemon, Baucis und ich
I
Nur in der Mitte, gekettet durch grünes Laub, war ihr Körper verbunden ›
und an den Enden: die Regen wehrenden Spitzen und unter dem Stamm ›
die schwarzrot getränkte, saftige Erde. Die ringsum grünenden Gräser, ›
über die im Frühjahr lang verschwiegene Botschaften huschen, aus Erde ›
gedrängt, mit Erde getränkt, Töne, die Stimmen werden im Licht, ›
im Flechtwerk der Wurzeln im Winter gefroren, versiegelt in Kälte und Eis; ›
und nun, im Sprießen, steigt Faden um Faden der Stimmen empor, hinauf ›
gewrungen mit der Wasserschmelze, wie sie sich Bahn bricht aus Erde nach oben. ›
Rasch, lausche; ebbt der Regen ab, lässt auch das Rauschen nach, reiht sich ›
auch Ton um Ton wieder im stillen Erdgrund ein; nur jetzt, im Rauschen, ›
Sprießen, Brausen, zieht es ihre und seine Stimme aus Baumgrund und ›
Blattgrund empor. Die Ohren des Windes stehn offen, wagen kein Blasen, ›
wollen den Laut nicht verpassen, der, ihrem so ähnlich, ihnen das andere sagt; ›
er wird, so wissen sie, zu ihnen von ihnen sprechen, vom Wind, und doch ›
das Weitere sagen, das weit sie ins Meer übersteigt. Ins Meer übersteigt sie ›
der Regen; das Gras verwoben mit Wasser und Salz; in Wind, Licht, Luft wird es ›
Träger des Meeres. Die Winde erstarren, bewegen sich nicht mehr, betasten das Gras ›
nicht, bestehen den Raum nur, sind Atem für Grasworte, Atemrohr, gräsergleich, ›
Bergungsort fürs Wachsen der Stimmen ins Licht. ›
(aus: Metamorphosen)
© Miriam Tag