Auf Streifzügen durch die Metropolen | Flaneure und Flaneusen

"wieder flanieren wieder spazieren wieder murmeln und hinstreuen" (Friederike Mayröcker)

Schreibnacht online | 24. Juni 2021

"Langsam durch belebte Straßen gehen, ist ein besonderes Vergnügen", schreibt Franz Hessel 1929 in einem seiner Berliner Feuilletons. Flaneure haben Zeit. Doch ist es wirklich Müßiggang, der in einer geschäftigen Umwelt schnell verdächtig wird?

Süßes Nichtstun, das mag es durchaus gewesen sein, als französische Aristokraten im neunzehnten Jahrhundert ihr Privatvergnügen auf die Pariser Boulevards und Plätze verlagern, um sich in modischer Eleganz und genussvollem Lebensstil öffentlich zu inszenieren. Den adligen Flaneuren folgen bald die reichen Bürger.

Die Verwandlung enger Gassen in gleichförmig angelegte Boulevards, zur Jahrhundertmitte von Georges-Eugène Haussmann in moderner Stadtplanung für Paris angestoßen, schafft vor allem das notwendige Ambiente. Trottoirs und glasüberdachte Passagen laden als "Mittelding zwischen Straße und Interieur" (Walter Benjamin) zum freizügigen Schlendern ein.

Vom Flaneur zum flanierenden Blick

Doch wer sich zur Schau stellt, will gesehen werden. Von Journalisten beispielsweise, die auf der Suche nach berichtenswerten Ereignissen sind. Ebenso unternehmen Schriftsteller und Künstler Streifzüge durch die Stadt. Dabei entdecken sie auch die weniger glamouröse Seite – die Elendsviertel. Die sozialen Themen kommen ans Licht.

Der Flaneur ist nicht mehr nur der noble Müßiggänger auf den Boulevards, sondern er wird zunehmend zum Betrachter und Beobachter, der seine Wahrnehmungen in seinem Werk erfasst und reflektiert. Charles Baudelaires Gedicht A une Passante/An eine Vorübergehende (1860) gilt als Schlüsseltext, in dem die neue Rolle des Flaneurs und sein ästhetischer Blick in den Mittelpunkt rücken.

Und die Flâneuse?

Flaneurin – der Duden verzeichnet das Wort, Flâneuse kennt er dagegen nicht. Die amerikanische Schriftstellerin Lauren Elkin greift auf die im Französischen reguläre weibliche Wortform zurück und macht sie zum Titel ihres 2016 erschienenen Buches. Frauen durchstreifen nicht die Stadt, sie erobern sie. „Eine Flâneuse“, so Elkin, „[ist mehr] als nur ein weiblicher Flâneur, sie steht für sich allein [...]. Die Flâneuse existiert, und zwar überall dort, wo wir vorgeschriebene Wege verlassen und uns neue Gebiete erschließen.“

Dass solches Ausbrechen in Zeiten bürgerlicher Moralvorstellung kaum möglich ist, die Frauen an Kind und Haus bindet, macht die Besonderheit weiblicher Streifzüge aus. Denn bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein steht der gute Ruf auf dem Spiel, wenn Frauen allein und ziellos durch die Straßen schlendern. Das kann wohl nur Prostitution sein, lautet der vorschnelle Verdacht, der die weibliche Bewegungsfreiheit rigoros einschränkt. „nicht unter jeder lampe könnten wir stehen bleiben [...//...] es dauert noch bis wir ganz in ruhe flanieren“, dichtet jüngst Anna Hetzer (*1986).

Die Rolle der Passantin

Einer Vorübereilenden widmet Baudelaire sein Gedicht. Die Passagen als Schwellenort, in dem sich die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum verwischt, bieten ihr Zuflucht. Warenhäuser, Bibliotheken, spezielle Restaurants kommen auf, die Frauen ohne Begleitung einen Innenraum bieten und sie dabei vor begehrlichen Ansinnen schützen. Die Ausnahmesituation der kaufwilligen Passantin erlaubt den Weg durch und in die Stadt.

„Niemand hat vielleicht jemals ein leidenschaftliches Verlangen nach einem Bleistift gehabt.“ So beginnt Virginia Woolf (1882-1941) ihren Essay Stadtbummel: Ein Londoner Abenteuer. Der Wunsch wird zum Vorwand, durch die Straßen zu streifen: „so als könnten wir unter dem Deckmantel dieser Entschuldigung getrost dem größten Vergnügen des Stadtlebens [...] frönen.“

Mit fremdem Blick auf die Stadt

Ob Flanieren oder Flâneusieren – die Metropolen gehören dazu, auch in Gedichten: London und Paris zunächst, dann Berlin. Im zwanzigsten Jahrhundert erweitert sich das Trio um New York, Sydney und Amsterdam. Hermann Kestens lyrisches Ich ist in Rom unterwegs: "Ich gehe, als wüßte ich wohin, / Ungeduldig, obgleich ich ankomme / Wohin ich nicht will."

Flanierende bewegen sich mit einem fremden Blick durch Viertel und Straßen. "Wer mit dem menschlichen Maß seiner Schritte durch eine Stadt geht, ist Perspektiven, […], Panoramen, […] leeren und gefüllten Räumen ausgesetzt, die nicht er, sondern ein anderer erdacht und gestaltet hat." Das Resümee des niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom ergänzt Lauren Elkin aus weiblicher Perspektive: "Gehen ist Kartografieren mit den Füßen. [...] Ich gehe, weil es in gewisser Hinsicht wie lesen ist. Wir bekommen Einblicke in das Leben [...]. Wir gehen Seite an Seite mit den Lebenden und den Toten durch die Stadt."

Auf zum Flanieren!

Anfang des zwanzigsten  Jahrhunderts begrüßt der Philosoph Walter Benjamin Die Wiederkehr des Flaneurs. 1976 ruft Peter Handke in einem Gedicht Das Ende des Flanierens aus. Doch weit gefehlt, denn die Streifzüge durch die Städte sind gefragt: mit fremdem Blick sowie mit dem so lange zurückgehaltenen weiblichen Blick.

Wenn Sie also Lust haben, die Metropolen der Welt lyrisch zu "kartografieren", sind Sie am Donnerstag, den 24. Juni 2021, ab 19 Uhr herzlich zur Schreibnacht eingeladen. Ich freue mich auf Ihr Kommen.

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