Digitale Lyrik

Hypertext, Flarf und künstliche Intelligenz

Schreibnacht online | 27. Januar 2022

Das Internet der Dinge breitet sich aus. Alexa und Siri suchen nach Dateien, schlagen Freizeitaktivitäten vor, erinnern an Termin und Anruf. Saugroboter drehen ihre Runden durchs Haus, der Kühlschrank weiß, dass die Milchtüte bald leer ist. Die smarten Assistenten begleiten uns durch den Alltag, Chatbots nehmen unsere Beschwerde über die falsche Lieferung entgegen.

Sie benötigen eine Übersetzung? Kein Problem, der Sprachassistent steht Ihnen zur Seite und liefert die Texte. Können Programme mit künstlicher Intelligenz auch Gedichte verfassen? Klar, und zwar mitunter in einer Qualität, die bei Wettbewerben preisverdächtig ist. Und der Ruf nach der Muse – ändert er sich in "O Server! / O Übertragungsprotokoll!", wie Monika Rinck ironisch ein Gedicht beginnt? Können bei solcher Anrufung Eichendorffs Lieder zum Klingen kommen? Einen Versuch ist es wert!

Digitale Lyrik und Literatur – viele Begriffe auf einen Nenner gebracht

Hypertext, Flarf, Instalyrik, Twitteratur, Lyrik im Netz und Netzlyrik – eine Menge Namen schwirrt durch den Raum, der kaum fassbar ist und sich in flüchtiger Timeline verströmt. "In der Digitalen Literatur drückt sich eine Zuneigung zum Jetzt aus, zur digitalen Gegenwart und gilt damit zugleich dem Erscheinenden wie Verschwindenden", schreiben Katrin Lange und Nora Zapf in der Einleitung zu ihrem Band Screenshots, dem Beiträge zu einer Tagung im Literaturhaus München (2017) zugrundeliegen. Wie sortiert sich die Ansammlung, die unter dem Begriff Digitale Lyrik und Literatur zusammengefasst ist? Zunächst wohl mit dem Versuch einer Begriffsbestimmung.

Lyrik im Netz – und doch ist das Buch im Blick

Lyrik im Netz – sie ist Ihnen vermutlich vertraut: Sie posten Ihre Gedichte auf Plattformen, diskutieren in Foren, suchen nach Wettbewerben und nach wichtigen Informationen. Sie nutzen die Social Media, um mit anderen Autor/innen in Kontakt zu kommen oder Ihre Texte untereinander auszutauschen. Gedichte öffentlich zu präsentieren und sich einen Namen zu machen: meist nach wie vor mit dem Ziel, in einem renommierten Verlag unterzukommen, also ein Buch zu publizieren.

Der distributive Charakter ist ein wichtiges Anliegen, um Lyrik ins Netz zu stellen. Sie können Ihre Chancen erhöhen, wenn Sie bereits mit Followern punkten. Verlage erwarten, dass Sie selbst an der Vermarktung Ihres Werks mitwirken. Die Zugriffszahlen auf Ihrem Literaturblog gewinnen an Bedeutung genauso wie Ihr Ranking in den Suchmaschinen. Und nicht nur das.

SMS-Lyrik und Twitter-Bot – digitale Kommunikation im Wandel

Das Internet ermöglich Ihnen vor allem, dass Sie selbst den Kontakt zum Publikum suchen – und zwar an den Verlagen vorbei. Sich vernetzen, mit anderen kommunizieren macht den zweiten wesentlichen Bereich der Lyrik im Web aus. Twitteratur, Instalyrik lassen dabei schon am Namen erkennen, welche Social Media-Plattformen im Spiel sind. Und die Lust am Spiel ist es auch, die im spontanen Hin und Her zwischen Posts und Antworten das Schreiben beflügelt und beeinflusst.

Ist das überhaupt Literatur, heißt es oft, und bei dieser Einschätzung hat die digitale Lyrik gegenüber dem Buchformat wenig Chance. "einmal pro stunde ein leises stolpern der finger", diese Zeilen von Tanja Dückers, stellt Anton G. Leitner bereits vor zwanzig Jahren als Motto seiner Anthologie mit SMS-Lyrik voran. Er verwandelt Texte quer durch die Jahrhunderte in Kurz-Botschaften und gibt sie als Büchlein heraus.

Tag und Nacht im Dienst – der automatische Lyrikgenerator

Anders verhält es sich 2018, als Kathrin Passig den Twitter-Bot Gomringador baut, der Eugen Gomringers damals viel diskutiertem Gedicht avenidas Reverenz erweist: Der automatische Lyrikgenerator gefüttert mit unterschiedlichem Sprachmaterial erzeugt bis heute neue Konstellationen: "dämmerlicht und lichtnahrung und blütenzauber und / irgendeinen sinn hat das sicher alles" (Gomringador, 31. Dezember 2021)

Netzlyrik - auf sie kommt es an

Haben Autor/innen in Zukunft ausgedient, wenn Maschinen Gedichte erzeugen? Kaum. Denn auch hinter den Maschinen steht zunächst eine Person, die die Programme speist, Textbausteine und Filter bestimmt und nicht selten den Output aussortiert und überarbeitet. Hier beginnt der spannende Teil der Netzlyrik. Sie sucht nach Möglichkeiten, die Wahrnehmung der Welt digital darzustellen. Das Experiment ist zentral.

Manches scheint dabei von den Pionieren des 20. Jahrhunderts übernommen: von der DADA-Bewegung, die den Zufall zum Prinzip erhebt oder von der Konzeptkunst, der die Idee wichtiger ist als die Ausführung. Einfluss nehmen auch die Konkrete Poesie und OuLiPo (L’ Ouvroir de Littérature Potentielle). Erstere betont häufig in Bildgedichten das Spiel mit dem Material Sprache, die Vertreter der Gruppe OuLiPo legen sich Formzwang und kreative Beschränkung auf, um so die Literaturproduktion zu erweitern.

Datenbanken, Archive und Algorithmus

Der Unterschied zeigt sich im Ausmaß der heutigen Archive, deren massenhafte Daten mit wechselndem Algorithmus immer wieder neu ausgewählt und kombiniert werden können. Halbzeug nennt Hannes Bajohr seinen Band, für dessen Texte er unter anderem Zeitungsartikel, Werke von Goethe, Kafka und Hölderlin oder auch Begriffe aus dem Duden heranzieht. Im Digitalen, so Bajohr, fluktuiere nämlich alles und sei frei, "wieder und weiter verarbeitet, transkodiert und prozessiert zu werden."