Vom Lesen. Poetische Reflexionen

"Durch ein großes Tor / ziehn die Bücher in mich ein" (Hilde Domin)

Schreibnacht online | 27. Februar 2020

Lesen? Für Dichter/innen ist das wohl keine Frage, sind doch nach Hilde Domin Autor und Leser Zwillinge. Doch das Verhältnis ist noch enger: Denn wer schreibt, liest gleichzeitig auch, was er/sie schreibt. Die Schrift ist Voraussetzung des Lesens -, zumindest wenn man den metaphorischen Wortgebrauch ausschließt. Dazu noch später.

Im Rahmen von PISA bedeutet Lesen "die Fähigkeit [...], geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen." Es geht um das produktive Lesen. Nur auf dieser Stufe nimmt die Lesekompetenz Einfluss auf höhere kognitive Funktionen.

Das Gelesene verstehen, auf Distanz gehen und sich eigene Gedanken dazu machen, den dabei inneren Dialog im Außen fortführen. Der Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann sieht darin ein "fast unendliches Spiel", bei dem eine Art Textur entsteht, "in dem viele Kräfte und Energien kreuz und quer zusammenwirken, sich zu Mustern verwirken [...]." Wie, wann und wo ein Text verfasst wurde, ist unerheblich, die schriftliche Fixierung macht das Wissen haltbar und unabhängig. Einem Treffen im Club der bereits toten Dichterinnen und Schreiber steht also nichts im Wege.

Lesen in neuen Schaltkreisen

Die Schrift wurde vor etwa 6000 Jahren erfunden. Aus Symbolen formten sich Buchstaben und Wörter, wobei dieser Umbruch auf unser Denken enormen Einfluss nahm und immer noch nimmt. Es ist der neuronalen Plastizität unseres Gehirns zu verdanken, dass sich beim Lesenlernen neue Schaltkreise bilden. Ursprünglich anders ausgerichtete Gehirnareale werden dabei umfunktioniert.

Die Neuro- und Kognitionswissenschaft hat faszinierende Zusammenhänge erforscht. Stansilas Dehaene und Maryanne Wolf als wichtige Vertreter dieser Zunft geben in ihren Standardwerken darüber detailliert Auskunft. In seinem Aufsatz "Lesen lernen" geht auch der Systemtheoretiker Niklas Luhmann davon aus, dass jede Textsorte eine spezielle Art Lektüre erfordert. Das Lesen von Gedichten brauche "ein aufmerksames Kurzgedächtnis und vielschichtige Rekursionen, die sich nicht darauf verlassen können, daß das, was gemeint ist, auch gesagt wird."

Was bedeutet das aber für Ihr Schreiben? Können Sie Ihre Gestaltungsmittel bewusster einsetzen, wenn Sie wissen, welche Prozesse sich bei der Lektüre im Gehirn abspielen, wie sich abstrakte Schriftzeichen, Laute und Bilder blitzschnell verknüpfen oder aus Lesen sogar Verlesen wird? Vermutlich ja. Lassen Sie sich also überraschen und experimentieren Sie in der Schreibnacht, ob und wie sich die Theorie in der dichterischen Praxis bewährt.

Die Welt als Buch oder Display

In ihrem jüngsten Buch "Schnelles Lesen, langsames Lesen" geht Maryanne Wolf der Frage nach, inwieweit die Digitalisierung kulturelle Errungenschaften zurücknimmt und unser Wissen verändert. Nehmen wir uns noch die Zeit, uns in die Gedanken und Weltsicht anderer zu versetzen, im Dialog mit dem Autor unsere eigene Einstellung bewusst zu machen? Können wir noch zwischen den Zeilen lesen, offen wahrnehmen, um aus der Konfrontation mit dem uns Unbekannten Neues zu lernen?

Der Philosoph und Kulturökologe David Abram geht einen Schritt weiter und sieht bereits im früheren Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Kultur einen Verlust unserer sinnlichen Wahrnehmung: Wir lesen nicht mehr Spuren, lesen nicht in den Sternen, vernehmen kein Rauschen der Blätter, lassen uns nicht auf das Unvorhergesehene ein. Das Buch der Natur, die Welt als Buch haben ausgedient. Im aktuellen Wandel zu einer digitalen Kultur heben wir kaum noch den Blick vom Display. Wir fixieren uns auf Maschinen, die inzwischen mit uns reden: Wir sind uns treu im Kreisel unserer selbst programmierten Menschenwelt.

Auf und im Lesen die Fäden zu neuen Gedichten aufgenommen!

Wo bleiben bei allem Lesen die Autor/innen, wo bleibt im Kulturpessimismus die Lyrik, die noch Zugang hat zu anderen Welten? In der Schreibnacht am 27. Februar, ab 19 Uhr stehen für Sie parat: Hilde Domin, Ilse Aichinger, Peter Huchel, Hans Magnus Enzensberger, Harald Hartung, Norbert Hummelt und noch viele mehr. Sie warten darauf, dass sich aus losen Lektürefäden weitere Textur ergibt. Weben Sie also mit! Ich freue mich auf Ihr Kommen.

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