Viersprachenlieder im Osten Europas

Newsletter | Januar 2007

Liebe Leserinnen und Leser,

die Bukowina ist einer der Schwerpunkte im Januar-Newsletter. 1940 zweigeteilt, gehört das "Buchenland" heute teils zur Ukraine, teils zu Rumänien. Die Hauptstadt Czernowitz war vor allem im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts ein Sammelbecken multikultureller, deutschsprachiger Literatur.

Alfred Margul-Sperber, Paul Celan und Rose Ausländer sind nur einige Namen, die mit der Landschaft zwischen Karpaten und dem Fluss Pruth verbunden sind.

"Ein Atlas des verschwindenden Europa"

Unweit davon im Vielvölkergemisch der Karpatenregion nahe der Theiß ist der zeitgenössische ukrainische Dichter Juri Andruchowytsch auf Spurensuche. In "Last & Lost" [Amazon-Link] macht er als einer der mitwirkenden Autor/innen deutlich, dass sich mit der Öffnung der Grenzen auch das Zentrum Europas nach Osten verschoben hat. Umso dringlicher erscheint daher der Blick auf die aktuelle Literaturszene der Ukraine.

Viel Vergnügen bei der Lektüre und
herzliche Grüße
Ihre
Michaela Didyk



Viersprachenlieder singen

Immer zurück zum Pruth [Amazon-Link] heißt ein Lyrikband Rose Ausländers. In ihren Versen erwacht die Landschaft der ursprünglichen Heimat: "Grüne Mutter / Bukowina / Schmetterlinge im Haar [...] Der Karpatenrücken / väterlich / lädt dich ein / dich zu tragen".

Doch in der Sehnsucht kommt auch die Erfahrung der beiden Weltkriege und des Holocaust zum Ausdruck. Aus ihrer Geburtsstadt Czernowitz vertrieben, emigriert die Dichterin wie viele Juden der Bukowina nach Amerika.

Entwurzelung aus der ursprünglichen Tradition

Claudia Erdheims im Herbst erschienenes Buch "Längst nicht mehr koscher" [Amazon-Link] erzählt dagegen mit Blick auf die eigene Ahnenreihe die Geschichte einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Galizien, das Ende des 19. Jahrhunderts noch östlichstes Kronland der österreichischen Monarchie war.

Auswanderung, Krieg, Widerstand und Vernichtungslager - das Schicksal der verzweigten Familie lässt das Aufbrechen und die Entwurzelung aus der ursprünglichen Tradition spüren: ein Prosatext, der in seinem Zeitbild von 1874 bis 1945 reiches Hintergrundwissen freigibt.

Die Erinnerung an die Bukowina und ihre Dichter/innen

In ihrer kulturellen Blüte ausgelöscht und am Ende des Zweiten Weltkrieg durch Deportation und Flucht fast menschenleer geworden, kehrt die Bukowina über die Erinnerung an die Dichter, die dort ihre "Viersprachenlieder" (Rose Ausländer) sangen, ins Gedächtnis zurück.

Der ukrainische Norden mit Czernowitz, der rumänische Süden - in dieser heutigen Konstellation erschließt sich das "Buchenland" dem Neugierigen. Wer sich dem Mythos der viel/viersprachigen Stadt Czernowitz stellen und die "Gegend, in der einmal Menschen und Bücher lebten“ (Paul Celan) neu entdecken will, wird auf Othmar Andrées Czernowitz-Seite fündig.


In der Sprache der Mörder

Paul Celan schrieb nach dem Holocaust zwar - wie er es nannte - in der "Sprache der Mörder", war jedoch zeit seines Lebens bestrebt, diese Sprache aufzubrechen und neu zu (er)finden. Zusammen mit Rose Ausländer ist er wohl am meisten mit der Bukowina verknüpft.

Im Literaturhaus Berlin und München machten Ausstellungen 1993 bzw. 2003 anschaulich, wie reich das literarische Schaffen in Czernowitz insgesamt war. Der Berliner Ausstellungskatalog von Herbert Wiesner "In der Sprache der Mörder" [Amazon-Link] ist grundlegendes Werk.

Wer sich speziell mit der Dichtung Paul Celans befasst, erfährt in Helmut Böttigers neuem Büchlein "Wie man Gedichte und Landschaften liest: Celan am Meer" [Amazon-Link] Näheres über die französischen "Rückzugsjahre" des Lyrikers. Aber auch sie waren geprägt von den Folgen des Holocaust.


Zeitgenössische Literatur der Ukraine

Juri Andruchowytsch und Oksana Sabuschko sind die beiden im Westen bekanntesten Literaten der heutigen Ukraine. Vor allem Sabuschkos jüngster Roman "Feldstudien über ukrainischen Sex" [Amazon-Link] brachte die Autorin in die internationalen Bestseller-Listen.

Andruchowytsch gilt insbesondere durch sein essayistisches Werk als Stifter einer neuen ukrainischen Identität, die auch die Öffnung nach Westeuropa befürwortet.

In Anthologien, Zeitschriftenveröffentlichungen und Literaturprojekten tauchen weitere Namen übersetzter Schriftsteller und Dichterinnen auf. Nach der Prosa beginnt nun auch die Rezeption der Lyrik. Es bleibt freilich ein kleiner Kreis von Autor/innen, der lediglich einen Bruchteil der ukrainischen Literaturszene ausmacht.

Ukrainische Literatur in Übersetzung

Für ein Kennenlernen empfiehlt sich das Projekt "Potyah 76 - Zug 76 : Junge ukrainische Literatur auf Tournee", das Literaturportal zur Vermittlung und Vernetzung ukrainischer Literatur.

Englische Übersetzungen - u.a. auch von Vasyl Gabor - finden sich im online-Magazin "Ukrainian Literature. A journal of Translation". Oleh Lyshehas Gedichte "Die Schildkröte" und "Er" können Sie ebenfalls online in der Zeitschrift Lose Blätter lesen.

Wer lieber zum Buch greift, findet in der von Karin Warter und Alois Woldan herausgegebenen Anthologie   "Zweiter Anlauf: Ukrainische Literatur heute" [Amazon-Link] neben der Lyrik Tymofi Hawriliws und Halyna Petrosanjaks u.a. auch Gedichte von Juri Andruchowytsch und Oksana Sabuschko.

Mykola Rjabtschuks Band "Die reale und die imaginierte Ukraine" [Amazon-Link] hilft, die unterschiedlichen Kulturen und Sprachen zu verstehen, die das Land in seiner Ost-West-Ausrichtung prägen.


Gedichte in der Originalsprache: "Lyrikline"

Hier spricht der Dichter, die Dichterin selbst - das Motto der lyrikline gilt auch für fremdsprachige Verse. Juri Andruchowytsch' Gedichte lassen sich - in der Übersetzung lesen (anklicken!) und - eindrucksvoll im Original hören. Weitere Lyriker/innen der Ukraine können sie über die Sammelseite auf lyrikline aufrufen.


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