Weiß die Blüten, weiß das Haar

Reiner Kunze: "lindennacht"

Rezension von Günter Ott

Philemon und Baucis erhielten im Alter das Geschenk ihres Lebens. Sie durften zur selben Stunde sterben. So dankten ihnen die Götter die Gastfreundschaft. Nach dem Tod wurden Philemon und Baucis in zwei beieinander stehende Bäume verwandelt. In zwei Gedichten seines Bandes "lindennacht" greift Reiner Kunze den antiken Mythos auf - und verlegt ihn ins Diesseits: "Wir dürfen noch zu ende leben / unter bäumen" (eine neuerliche Variante zu den Baumgedichten von Brecht und Celan).

Die Stunde naht. Was bleibt noch an Zeit? An den Bäumen, an der Linde liest es der Dichter ab - und sie beschenkt ihn noch einmal mit ihrer Blütenpracht. Reiner Kunzes Gedichte spielen zwischen Leben und Tod, zwischen Lindenblüte und Nacht. Und da dem Dichter der die Welt verwandelnde Blick zu eigen ist, imaginiert er sich als einen die Sommerlinde hochkletternden Kleiber, dem noch einmal Hoffnung zufällt: das Wort "himmelgrün".

Behutsam mit Worten

Grün zählt zu den Farben der Kindheit, neben dem Blau des Himmels und dem Schwarz der Kohle. Wer das Ende bedenkt, erinnert sich der Anfänge. Kunze wurde 1933 im Erzgebirge geboren, als Bergarbeitersohn - in Zeiten der auf die weiße Wäsche niedergehenden Schlotasche, eingedenk der "Schachttasche" ("instandgehalten / mit ahle und schusterzwirn"), mit der Großvater und Vater zur Schicht gingen.

Kunze, in späteren Jahren von der DDR-Staatssicherheit verfolgt, räsonniert - in gut brechtscher Manier - über die "bewohnbarkeit der welt". Der 1977 in die Bundesrepublik übergesiedelte, nahe Passau lebende Dichter weiß die Worte zu setzen wie kaum ein zweiter Lyriker der Gegenwart. Er geht behutsam mit ihnen um (bis hin zur philosophisch-paradoxen Verknappung), wissend um das "millionenzüngige" Gerede (Celan sprach vom hundertzüngigen "Meingedicht").

Manche Gedichte haben nicht mehr als drei Zeilen. Sie kommen nahezu ohne Endreime und Großbuchstaben aus. "Schule des Haiku" heißt ein Gedicht, "Altershaiku" ein anderes:

"Verzweifelt suchst du
nach dem namen der dinge
Die welt entfernt sich."

Das klingt wie eine Verkehrung Eichendorffs - er setzte auf das Zauberwort. Die Romantik ist der (Sprach-)Skepsis gewichen.

Reisen und Fahrten, auch mit alten Meistern

 Und doch gelingen Kunze wunderbare, leicht verschattete Naturverse - wie "Unwirklicher Maitag", dessen weißes Blütengewölk gefeiert und im "weißen haar" sogleich gebrochen wird - wie der "Donaumorgen unterhalb von Passau", wie die "Fahrt mit altem Meister". Wenig ist entbehrlich, so die Verse zu der von Kunze bekämpften Schreibreform. Der Dichter gedenkt im Vers, dem oft ein Motto, ein Zitat vorangeht, der Kollegen (Christine Lavant, Hermann Lenz, Camus); er zieht noch einmal seine Reisen nach (Finnland, Fernost). Gegen Ende häufen sich die Abgesänge:

"Wir sind der toten
kurzes ewiges leben."


Günter Ott leitete das Feuilleton der Augsburger Allgemeinen Zeitung und arbeitet weiterhin als freier Journalist und Literaturkritiker.