Peter von Matt: "Wörterleuchten" | Gedicht-Deutungen

Gestern liebt’ ich, heute leid’ ich.

Rezension von Günter Ott

Wer kennt Liebesgeflüster unserer Vorfahren ("min zuckerkrütken")? Wer endete sein Gedicht mit der Zeile "Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen!-"? Wer reimte "Urin" auf "Hölderlin"? Wer rühmte den stattlichen Bauch von Charles Laugthon als Kunstwerk?

Die Antworten hält das vortreffliche Bändchen "Wörterleuchten" des renommierten Germanisten Peter von Matt bereit. Sein Untertitel: "Kleine Deutungen deutscher Gedichte". Es sind 60 an der Zahl, vom Mittelalter bis heute. Die meisten der im Lauf von 26 Jahren entstandenen Kurzinterpretationen des Schweizer Emeritus erschienen in der 1974 von Marcel Reich-Ranicki begründeten "Frankfurter Anthologie", eine feste Größe in der Samstag-FAZ bis auf den Tag.

Je zwei Seiten Lesevergnügen und Denkstück

Was wird über Gedichte, über diese bewundernswerten Sprach- und Wirklichkeitskonzentrate, nicht alles geschwafelt? Anders hier: Die pointierten, erhellenden, in einem vorbildlichen Deutsch vorgetragenen Ausführungen Peter von Matts kommen auf eineinhalb bis zwei Seiten unter. Das Gedicht findet wie selbstverständlich zu seiner Deutung, und beides wird als Lesevergnügen und Denkstück an den Leser weitergereicht.

Eine Betrachtung beginnt z.B. so: "Er trug immer einen kleinen Schraubenzieher bei sich. Damit schraubte er Hinweisschildchen ab, löste Anschläge von der Wand, Klebezettel." Gemeint ist Kurt Schwitters, dessen Gedicht "An Anna Blume" mit dem wunderbar-verrückten Liebesbekenntnis ausklingt: "Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!"

"Wie einst im Mai"

Große Autoren stehen neben kaum bekannten, Matthias Claudius und Goethe neben Hermann von Gilm zu Rosenegg (1812–1864), den wenige kennen, auch wenn fast alle eine Zeile von ihm im Mund führen: "Wie einst im Mai". (Sie steht in seinem "Allerseelen"-Gedicht.)

Dichter schreiben an gegen "säbelnde Zeit", es bedrückt sie das Seelenheil, der Verlust der Liebe (Annette von Droste-Hülshoff!), es bleibt ihnen in allem Leid das Wissen um ihre Unsterblichkeit - siehe Heine, der lang in Paris dahinstarb unter vielen Augen aus ganz Europa. Heines köstliche Zwei- und Mehrdeutigkeiten ("Der Scheidende") legen eine poetische Spur bis in die Gegenwart.

Wörterleuchten: Gedichte eines erfüllten Augenblicks oder von Trauer und Leid

Viele Dichter in diesem Band suchen die Zeit zum Stehen zu bringen im erfüllten Augenblick. Grazie mischt sich in die Reflexion, der Traum von der Erlösung rinnt durch die Zeilen, der ekstatische Aufbruch wechselt mit dem Rückgriff auf Bibel und Mythologie.

Gestern liebt’ ich,
Heute leid’ ich,
Morgen sterb’ ich:
Dennoch denk’ ich
Heut und morgen
Gern an gestern.

Welch einfache Verse, und aus welcher Tiefe leuchten sie! Lessing hat sie 1779 in seinem "Lied. Aus dem Spanischen" gedichtet. Eine spanische Vorlage wurde nie gefunden. Kurz zuvor, schreibt Peter von Matt, ist Lessings Frau gestorben, an der Geburt eines Sohnes, der keine 24 Stunden überlebte. Diesen Schicksalsschlag verwand Lessing nicht, er starb drei Jahre später.

PS: Die eingangs gestellten Fragen beziehen sich auf Gedichte von Hetzbold von Weißensee, Theodor Storm, Günter Eich und Brecht.

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Günter Ott leitete das Feuilleton der Augsburger Allgemeinen Zeitung und arbeitet weiterhin als freier Journalist und Literaturkritiker.