Elfriede Jelinek: "Winterreise"

Rezension von Günter Ott

Das Wandern als (des Müllers) Lust, davon dichtet mit Emphase und vielen Ausrufezeichen Wilhelm Müller (1794 – 1827). Das Wandern als bohrende Selbsterkundung im Strudel von Ich und Zeit, davon schreibt Elfriede Jelinek.

Titel ihres neuen Stücks, wie gehabt ohne umrissene Personen, ohne Handlung und Szene: "Winterreise". So überschrieb Müller seinen 1824 in Dessau erschienenen Zyklus von 24 Gedichten. So nannte wiederum Franz Schubert seine entsprechende, vorwiegend in Moll gehaltene Lieder-Komposition – die Elfriede Jelinek früher oft am Klavier begleitete.

In der Sprachflut der Wiederholungen und Assoziationen

Jelineks Lieblingsgedicht aus dem Zyklus ist "Der Leiermann". Die vierte Strophe lautet: "Und er läßt es gehen  / Alles, wie es will.  / Dreht, und seine Leier / Steht ihm nimmer still."

Die Zeilen geben jene durch Spiegelungen, Wiederholungen, vor allem Assoziationen vorangetriebene Sprachflut wider, in die sich die Literaturnobelpreisträgerin von 2004 wirft, von der sie sich in ihrer als "Theaterstück" ausgegebenen Prosa tauchen und tragen lässt.

Manchen fast wörtlichen Zitaten von Müllers Gedichten steht der Einspruch entgegen. "Die Liebe liebt das Wandern", dichtet Müller. "Die Liebe liebt nicht das Wandern", widerspricht Jelinek. Die Lust ist dem Schmerz, der Entsagung gewichen. Aus dem Posthorn tönt nur mehr Ironie. Das Herz drängt, doch es findet kein Echo. So irrt der Wanderer, die Wanderin, fortgerissen von der Zeit, immer tiefer in sich hinein, bis sie in ihren Wünschen und Wunden verschwinden, bis der Text unters Eis führt und der "Kopf zum Greise" wird (Müller).

Abstrakte Sprachlandschaft oder Spiel-Text

Vergangenes mischt sich mit Gegenwärtigem – die aufopferungsvoll gepflegte Mutter, die 3096 Tage lang gefangene Natascha Kampusch, die allseits ausgebeutete Geld-Braut, die Event-Jäger auf den weißen Pisten  … Doch das Ganze bleibt eine nur mit Mühen zu durchquerende, abstrakte Sprachlandschaft. Jelinek ist eine Schreib-Wanderin. Die Sprache hängt ihr wie ein Mühlstein um, an ihr arbeitet sie sich ab, immer am Abgrund entlang.

Ein Spiel-Text? Die Uraufführung (3. Februar) an den Münchner Kammerspielen (Regie: Johan Simons) wird es erweisen.


Günter Ott leitete das Feuilleton der Augsburger Allgemeinen Zeitung und arbeitet weiterhin als freier Journalist und Literaturkritiker.