Echsenfrauen, Stechäpfel, Vorbilder

Wie & was Autorinnen schreiben

Newsletter | Februar 2011

Liebe Leserinnen und Leser,

welche Vorbilder haben Sie? Wird mir diese Frage gestellt, nenne ich Germaine de Staël und Lou Andreas-Salomé. Beide Frauen haben in ihrer Zeit mutig Wege gefunden, sich zu verwirklichen. Genausowenig haben sie sich gescheut, aus den von der Gesellschaft vorgeschriebenen Rollen in ein eigenwillig öffentliches Leben auszubrechen.

Exzellente Denkerinnen, versammelten die beiden Dichter und Philosophen um sich, ohne sich als gefühlvolle Frau zu verleugnen. Lou Andreas-Salomé, mit deren Namen sich sofort auch der von Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud verbindet, wurde vor 150 Jahren geboren. Ihr Jahrestag ist - passend auch zum 100. Frauentag am 8. März - Anlass, diesen Newsletter Autorinnen zu widmen.

Die Echsenfrauen in den Gedichten Ingritt Sachses

Echsenfrauen machen gleich den Anfang. Sie tauchen stolz, in archetypischer Kraft gegen jede Anpassung gefeit und mit unbestechlichem Blick in Ingritt Sachses Gedichten auf, deren Erstlingswerk "in schattengängen streut licht" jüngst erschienen ist. Besprechungen zum Buch der mehrfachen Gewinnerin im "Projekt Monatsgedichte" finden Sie auf der Website der Autorin [nachträglich neu verlinkt]. Wenn Sie Ingritt Sachse auf ihrer Buchtour live hören möchten: Im Frühjahr stehen ihre Lesungen in Köln (27. März), Bad Godesberg (8. April) und in Berlin (13. Mai) auf dem Programm.

Ich wünsche Ihnen sonnige Frühlingstage und grüße herzlich
Ihre
Michaela Didyk



Christine de Pizan: Hofdichterin und Begründerin weiblicher Utopie

Christine de Pizan (1364 bis etwa 1430) gilt als erste französische Autorin, die von ihrem Schreiben leben konnte. In Venedig geboren, kam Christine vierjährig nach Paris, wohin ihr Vater als Hofastrologe und Leibarzt des französischen Königs Karl V. berufen war. Hochgebildet, im Alter von 16 Jahren verheiratet, begann Christine de Pizan nach dem frühen Tod ihres Mannes 1389 als Autodidaktin zu schreiben.

In der Hoffnung, so eine Gönnerin zu finden, übergab sie zehn Jahre später Isabeau von Bayern, der Gemahlin des Nachfolgekönigs Karl VI., ihren ersten Gedichtzyklus. In den "Hundert Balladen", der damals noch ungewohnten Textform, hatte sie ihre Trauer verarbeitet. Zahlreiche Prosaschriften folgten, in denen sie zu Erziehung, zu lehrhaften Themen schrieb. Sie verfasste zudem Fürstenspiegel und die Biographie des von ihr hoch geschätzten Königs Karl V.. Damit gewann Christine de Pizan weitere Mäzene und baute ihre Stellung als professionelle Hofdichterin aus.

Die Verteidigung weiblichen Geschlechts

Ab etwa 1399 löste Christine einen Streit um den damals sehr beliebten, aber stark frauenfeindlichen "Rosenroman" aus. Sie verstand es, die Debatte nicht nur über die Literatenkreise hinaus öffentlich zu machen, sondern auch erfolgreich in die bis dato unkritische Rezeption einzugreifen.

In ihrem heute bekanntesten Werk "Das Buch von der Stadt der Frauen" (1404/05) [Amazon-Link] , nahm sie die Verteidigung weiblichen Geschlechts und die Kritik an der misogynen Tradition nochmals auf. Mit Geschichten und Porträts außergewöhnlicher Frauen aller Epochen schuf sie im Bild einer idealen Stadt einen neuen Vorstellungsraum für Weiblichkeit.

Pizans früher Entwurf einer Frauengeschichte

Sie befreite Frauenfiguren wie Xanthippe oder Medusa von ihrer negativen Bewertung. Nach ihrer Biographin Margarete Zimmermann [Amazon-Link] begründete Pizan so im "Entwurf einer frühen Form von Frauengeschichte" den Wandel weiblichen Selbstbewusstseins. Denn das Werk befand sich in zahlreichen Bibliotheken adliger Frauen und wurde an deren Töchter vererbt. Mit der Zusammenstellung der Frauenporträts hielt sich das Wissen und die Erinnerung an die früheren Frauengenerationen und reicherte sich fortwährend an.

Christine de Pizan ist auch in unserer Zeit noch präsent. Simone de Beauvoir hob die mittelalterliche Autorin und Verlegerin in ihrem Klassiker "Das andere Geschlecht" (1949) [Amazon-Link] als Autorität hervor. Barbara Tuchmann machte in "Der ferne Spiegel" (1978) [Amazon-Link] , ihrer Abhandlung über das 14. Jahrhundert, die mittelalterliche Autorin zur Kommentatorin, die die historischen Verhältnisse aus weiblicher Perspektive reflektiert.


Lou Andreas-Salomé: Ein Leben frei in vielen Rollen

"Endlich nach einer langen, arbeitsreichen Zeit durfte ich mir etwas Erholung gönnen. Da habe ich denn eine der schönsten Geschichten gelesen, die es gibt: "Ma" [Amazon-Link] von Lou Andreas-Salomé. Wenn es ein Porträt ist, dann ist es ein Velasquez.“ [1] Marie von Ebner-Eschenbach, mit der Lou seit 1895 Briefe wechselte, bedankte sich so 1901 für das gerade erschienene Werk ihrer jüngeren Kollegin. Diese gehörte um die Jahrhundertwende zu den bekanntesten Frauen des deutschen Geistesleben.

1895 hatte sie mit ihrer Erzählung "Ruth" [Amazon-Link] ihren literarischen Erfolg begründet. "Ródinka" [Amazon-Link] , 1923 mit Erinnerungen an ihre Heimat Sankt Petersburg erschienen (vermutlich bereits 1900 nach ihrer Russland-Reise mit Rainer Maria Rilke entstanden), ist wie das gesamte erzählerische Werk autobiographisch geprägt. Lou Andreas-Salomé wollte nach eigener Aussage "dicht am Leben bleiben". Ihre Erzählungen waren nicht unbedingt zur Veröffentlichung bestimmt und daher im Banksafe verwahrt, bis finanzielle Gründe die Publikation nötig machten.

Auch in der Dichtung - der analysierende Blick

Frieda von Bülow, Lous langjährige Vertraute, sah deren Stärken jedoch auf anderer Ebene und schrieb an Ricarda Huch, deren Roman Andreas-Salomé besprochen hatte:

"Was meine geistvolle Freundin Lou Andreas besticht (am genannten Roman [d.i. 'Erinnerungen an Ludolf Ursleu den Jüngeren']), ist gerade der Gang, der Inhalt, die Entwicklung des Romans, - das Innerste desselben und ich finde ihre Auffassung wunderschön. [Aber …] Lou hat manchmal die Eigenschaft, Dichtungen nach ihrem eigenen inneren Bedürfnis umzudichten und sieht dann Dinge darin, an die der Autor gar nicht dachte [...] Sie glaubt von Naturanlage Dichter zu sein; aber ich glaube das nicht. Sie zergliedert und reflektirt [!] viel zu stark." [2]

Friedrich Nietzsche und Rainer Maria Rilke

Lou Andreas-Salomé blieb eher als Essayistin in Erinnerung. Bereits 1894 erschien ihre Darstellung "Friedrich Nietzsche in seinen Werken" [Amazon-Link] , die als Gesamtinterpretation noch immer Gültigkeit hat.

Nach dem Tod Rilkes verfasste sie 1928 eine Würdigung [Amazon-Link], in der nicht wie im "Lebensrückblick" [Amazon-Link] die persönliche Beziehung, sondern das Ausloten von Rilkes sensibler Künstlernatur Raum gewann. Sie hatte den um zwölf Jahre jüngeren Rilke 1897 in München kennengelernt und erfasste bereits früh seine sich anbahnenden Schaffenskrisen.

Als sich Lou und Rainer - gegen diesen Namen hatte sie die alte Form "René" ausgetauscht - 1900 nach der zweiten Russlandreise trennten, begleitete sie ihn mit Briefen in seiner späteren Krankheit und Seelennot. Inzwischen bei Sigmund Freud ausgebildet, riet sie ihm jedoch von einer Psychoanalyse ab. Zu gefährlich schien es ihr (auch wenn sie ihre Einschätzung später in Frage stellte), dass dadurch die dichterische Kraft geblockt würde.

In ihren Themen der Zeit voraus

Lou Andreas-Salomé schrieb durch Martin Buber angeregt über Erotik oder über Narzißmus, über Gott oder  die Freiheit, die sie schon früh - siehe Zitat unten - auf Henrik Ibsens Frauengestalten artikulierte. In ihrem Schreiben griff sie (Lebens-)Themen auf, die der Konvention ihrer Zeit widersprachen, sich jedoch als Veränderungen ankündigten:

"Ihre Fluchtgedanken waren nichts anderes, als die dunkle Angst vor der Fessel, die Angst des freigeborenen Geschöpfes, das niemals heimisch werden kann in Zwang und Knechtschaft. [...] Nicht mehr fort in das Grenzenlose will [der wilde Vogel] nun, sondern nur, daß die freiwillig anerkannten Grenzen keine zwingenden Grenzen seien: nicht mißbrauchen seine Schwingen will er, nur sie frei entfalten und regen dürfen; nicht fort von den Genossen, nur frei in Liebe unter ihnen weilen." [3]

Quellenverweise

Die Zitate stammen aus folgenden Biographien [die Links führen zu Amazon]:
[1] und [2] Ursula Welsch und Dorothee Pfeiffer: "Lou Andreas-Salomé: Eine Bildbiographie"
[3] Cordula Koepcke: "Lou Andreas- Salome - Ein eigenwilliger Lebensweg. Ihre Begegnung mit Nietzsche, Rilke und Freud"
Für März 2011 ist eine neue Biographie von Ludger Lütkehaus angekündigt: "Entriegelter Freiheitsdrang - Lou Andreas-Salomé"


Werkstätten & Online-Kurse: März & April 2012


"Was Frauen schreiben" von Ruth Klüger & Ulla Hahns Anthologie "Stechäpfel"

Ruth Klüger und Ulla Hahn sind sich einig: Weder Sprachstil noch Form eines Romans oder Gedichtes lassen sich spezifisch weiblich bestimmen. Vielmehr prägen die im Stoff eingeflossenen geschlechtsspezifischen Erfahrungen die weibliche Perspektive.

61 Rezensionen für einen facettenreichen Blick aufs Leben

"Was Frauen schreiben"[Amazon-Link], der jüngste Band Ruth Klügers, fasst einundsechzig Rezensionen zusammen, die die in Kalifornien lebende Germanistin zwischen 1994 und 2010 für deutsche Zeitungen schrieb. Es sind Einzeldarstellungen zu Büchern von Autorinnen, die - international wie durch die Jahhunderte hidurch - einen weiten Bogen spannen: Vertreten sind Herta Müller, Doris Lessing und Margaret Atwood; ebenso Erika Mann und Bettina von Armin. J. K. Rowling darf nicht fehlen.

In den Romanen oder Erzählungen der vorgestellten Schriftstellerinnen werden realistische Stoffe ausgebreitet. Randgruppen der Gesellschaft rücken in den Brennpunkt, Emigrantenschicksale, Unterdrückung in Diktaturen und sexistischen Kulturen, Ehedramen. Das Leben von Künstlerinnen wie Frida Kahlo, Paula Modersohn-Becker oder Angelica Kauffmann sind dafür Beispiele.

In ihrer pluralistischen Sammlung macht Ruth Klügers Band neugierig auf die Werke von Frauen - oder wie sie selbst im Vorwort schreibt: "Im Aggregat bewirken sie eben doch einen Blick aufs Leben durch anders geschliffene Gläser."

Gedichte von Frauen aus drei Jahrtausenden

"Stechäpfel" [Amazon-Link] nennt Ulla Hahn die von ihr zusammengestellte Anthologie mit "Gedichten von Frauen aus drei Jahrtausenden". Liebe und Tod, Ich- und Welterfahrung, die Auseinandersetzung mit Sprache und der eigenen Dichtung erweisen sich auch bei Dichterinnen als bewährte Lyrikthemen.

Dass Autorinnen inzwischen häufiger in Anthologien erscheinen als bisher, sieht Ulla Hahn, selbst erfolgreiche Lyrikerin, durchaus abhängig vom eigenen Handeln: "Nicht wenige erinnern mitunter an den Mann aus dem Gleichnis Jesu, der sein Talent, das der Herr ihm anvertraut hat, vergrub, um es unversehrt zu halten, anstatt mit seinem Pfunde zu wuchern. Genau das aber müssen Frauen tun."

Die 1965 in Siebenbürgen geborene Lyrikerin Simona Popescu drückt in ihrem Gedicht aus, was Autorinnen oft fehlt: "ich brauche Zuspruch,/ damit ich anfang' zu sprechen/ von mir." Sich und das Talent, das Werk sichtbar zu machen, um dadurch  für andere erst sichtbar zu werden, dafür ist Ulla Hahns Sammlung "Stechäpfel" bestes Beispiel.


"Frauen, die schreiben, leben gefährlich" - Porträts in Buch und Web

"Ich werde offen sein, eine Frau soll nicht schreiben ... Nehmen Sie meinen Rat an: Machen Sie keine Bücher, setzen Sie Kinder in die Welt!" Verständlich, dass Aurore Dudevant, geborene Dupin, auf solchen Rat eines Schriftstellerkollegen lieber die Kleider wechselte und als George Sand (1804-1876) Karriere machte.

In seinem Bildband "Frauen, die schreiben, leben gefährlich" [Amazon-Link] stellt Stefan Bollmann Porträts von Schriftstellerinnen aus dem europäischen und nordamerikanischen Raum der letzten 250 Jahre vor. Hildegard von Bingen, die mit 42 Jahren erst zu schreiben begann, und Christine de Pizan übernehmen in der illustren Gruppe von Virginia Woolf, Anna Achmatowa, Toni Morrison, Assia Djebar, Else Lasker Schüler, Anais Nin, Tania Blixen oder Ingeborg Bachmann u.a. die Rolle der mittelalterlichen "Ahnherrinnen".

"Die Frau muss sich selbst Muse sein"

In seiner Einleitung nennt Bollmann die Bedingungen, unter denen Frauen je nach Kultur und Epoche schreiben. Elke Heidenreich verweist im Vorwort des Buchs darauf, dass viele bedeutsame Schriftstellerinnen Selbstmord begingen, krank wurden oder in Depression verfielen. Ihrer Ansicht liegt die Herausforderung in der Doppelrolle: "Das, was Männer beflügelt, zerstört offenbar Frauen: die Gleichzeitigkeit, eine Liebe zu leben und sich künstlerisch zu etablieren."

Während Frauen den Alltag von Autoren entlasteten und ihre Muse würden, blieben Frauen in ihrem künstlerischen Schaffen auf sich gestellt. "Die Frau muss sich selbst Muse sein." Beziehung und Ehe bedeuteten häufig den Verzicht aufs eigene Werk, während - existentiell und Authentizität fordernd - Schreiben das "Grauen der Einsamkeit" mit sich bringe. Daran scheiterten viele Autorinnen.

Stefan Bollmanns Porträtband bekannter Autorinnen fügt Christine de Pizans "Buch von der Stadt der Frauen" gleichsam ein neues Kapitel hinzu: Auch seine Geschichte der schreibenden Frauen kann den Nachfolgerinnen Mut machen.


Autorinnen-Porträts im Web

Auch das Internet stellt Porträts von Schriftstellerinnen bereit. Auf diesen beiden Datenbanken können Sie mehr oder weniger berühmte Frauen aufspüren und ins verdiente Rampenlicht stellen:


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