Vom Filmgedicht zum Poesiefilm

Newsletter Nr. 45 | September 2017

Liebe Leserinnen und Leser,

Kinogedicht, Filmgedicht, Poesiefilm, Poetry Clip - die Lyrik schafft es in ihrer Vielseitigkeit, auch mit dem Medium Film vielerlei Verbindungen einzugehen. Wenn Sie vielleicht der Meinung sind, dass die Begriffe der Wortkette beliebig austauschbar sind, dann kann dieser Newsletter helfen, die verschiedenen Spielarten aufzufächern.

Eventuell ist es für die eine und den anderen unter Ihnen ein Anreiz, auf diese Weise einen neuen Weg in die Öffentlichkeit auszuprobieren. Es muss nicht immer ein Gedichtband sein, mit dem Sie sich einen Namen machen. Nutzen Sie auch die audiovisuellen Kanäle.

Audio, diese Form ist beim Interview mit dem Berliner Lyriker Jörg Wiedemann schon umgesetzt, das Sie in meinem Blog finden. Hören Sie vier Gedichte vom Autor selbst gesprochen und lesen Sie, was ihn zum Schreiben bewegt. Es sind oft erlesene Figuren und Motive, die in Jörg Wiedemanns Texte einfließen. Denn ohne Lektüre gibt es für ihn auch kein Dichten.

Viel Vergnügen mit meinem September-Newsletter und einen schönen Herbst
wünscht Ihnen/euch

Michaela Didyk



Kleines poetisches Filmglossar

Wer sich intensiv mit der Beziehung zwischen Film und Lyrik befasst, kommt an Jan Röhnerts Arbeit "Springende Gedanken und flackernde Bilder" [Amazon-Link] kaum vorbei. Ich stieß bei der Vorbereitung meiner Literatur-Schreibnacht über Rolf Dieter Brinkmann auf die Dissertation. In meiner Filmbegeisterung ließ mich das Thema nicht so schnell los, so dass ich es weiter vertief(t)e. Für das "Newsletter-Glossar" greife ich auf Röhnerts Unterscheidung der Begriffe zurück:

Kino-Gedichte befassen sich: mit dem Kino. Filme, Schauspieler/innen, Starkult, eine Szene, ein Gesprächsfetzen als Zitat, die Faszination am Kino oder eine kritische Sicht darauf. Das alles kann Thema des Kino-Gedichts sein. Der Schwerpunkt liegt allein auf dem Sujet, ohne dass sich die poetischen Mittel ändern, die Sie einsetzen. Sie könnten in gleicher Weise über die Liebe oder die Natur schreiben.

Das filmische Gedicht verwendet dagegen gerade Verfahren, die denen des Films gleichkommen. Dabei muss es nun im Gegenzug gar nicht um das Thema Film gehen. Die Montage gehört als wichtigster Kunstgriff dazu. Gottfried Benn nutzt beispielsweise die Methode auf der Wort-Ebene: Das "Vokabular verschiedenster Stil- und Bedeutungsebenen wird bei ihm aneinander’geschnitten’, zu einem Cluster arrangiert, in dem sich der bruchstückhafte Charakter der erfahrbaren Wirklichkeit widerspiegelt." (Jan Röhnert)

Das Film-Gedicht bringt nun diese beiden Positionen zusammen. Es setzt filmische Möglichkeiten ein, um genau Kino und Film oder einzelne Aspekte davon zu thematisieren.

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Zur trockenen Theorie darf die Praxis nicht fehlen: Film und Kino standen 2012 auch beim Projekt "Monatsgedichte" im Mittelpunkt. Oliver Füglister gewann die damalige Wettbewerbsrunde mit seinem Gedicht "Unstille". Lesen Sie passend zum Filmgedicht seine poetische Version. Viel Spaß bei dieser humorvollen Einlage!

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Einen kurzen Essay Jan Volker Röhnerts gibt es noch in der Edition Poeticon: Film: Flirts in den Central-Lichtspielen [Amazon-Link]


Performance und Poetry Clip

Spoken Word und Poetry Slam setzen auf die Performance. Die Sprechbühne wird zum Ort für Sprachartistik ohne Requisit und Musikbegleitung. Mimik und Gestik, die Körperbewegung wird zum wichtigen Aufführungselement.

Videos zeigen zunächst die Performance auf der Bühne. Doch die Slam Poeten wollen noch mehr und der Bewegung weiteren Raum geben. Video Clips entstehen, die anstatt eines Buchs oder einer CD nun Text und Ton und Körperbewegung einfangen und wiedergeben.

Wie diese unterschiedlichen Möglichenkeiten in der Spoken Word-Bewegung aussehen können, zeigen Ihnen die Beispiele von Philipp Scharrenberg, Nora Gomringer und Bas Böttcher. Lesen Sie hierzu Spoken Word & Poetry Slam - reloaded in meinem Blog weiter.


Aktuelle Kursangebote - September bis Dezember

Wenn Sie bei der letzten Donnerstag-Schreibnacht 2017 dabei sein möchten oder auch die wieder lang werdenden Abende dazu nutzen wollen, das Dichterhandwerk professionell zu lernen oder intensiv zu trainieren:

  • Lyrik auf Alltags-Kurs
    30-Tage-Programm für professionelles Schreiben & fokussierte Wahrnehmung
    E-Mail-Kurs | Einstieg jeweils zu Monatsbeginn | nächster Kurs im November

Der Poesiefilm als eigenständiges Genre

Wir sind oft gewohnt, neue Medien in Konkurrenz zu den bestehenden zu sehen. Deutlich erkennbar ist es beispielsweise am eBook unserer Tage. Mit der Literaturverfilmung ist es im Großen und Ganzen nicht anders. Zunächst zumindest - wenn man davon ausgeht, dass eine Romanhandlung einfach abgelichtet wird. Dabei bleiben natürlich Nebenhandlungen und Verfeinerungen eines umfangreichen literarischen Werks auf der Strecke. Der Film reduziert auf den zentralen Erzählstrang, blendet alles andere aus, trivialisiert nicht selten.

Literaturverfilmungen

"Im Hintergrund solcher Bewertungen steht die traditionelle Hochschätzung des Mediums Literatur und häufig auch die Vorstellung, dass das mit symbolischen Zeichen arbeitende Sprachkunstwerk eine aktive Rezeptionshaltung des Lesers fordere, während das Bild-dominierte Darstellungsverfahren des ikonischen Mediums Film grundsätzlich eine passive Konsumhaltung fördere." Anne Bohnenkamp wehrt sich gegen die Herabstufung von Literaturverfilmungen.

Zusammen mit Tilman Lang hat sie den Reclamband mit Interpretationen zu "Literaturverfilmungen" [Amazon-Link] herausgegeben. Die dort versammelten Beiträge beweisen, dass Bohnenkamp mit ihrer Kritik recht hat. Um nur einige Künstler zu nennen, die im gut 400 Seiten umfassenden Kompendium vertreten sind:  Die Marquise von O. (Heinrich von Kleist - Eric Rohmer), Madame Bovary (Gustave Flaubert - Jean Renoir, Claude Chabrol) oder Der Tod in Venedig (Thomas Mann - Luchino Visconti)

Auch "die Dechiffrierung der spezifischen 'Codes' bewegter Bilder", so die Herausgeberin sei komplex. Denn nicht das Medium selbst, sondern wie man es einsetzt, entscheide über die ästhetische Qualität. Erstaunlich ist für die Wissenschaftlerin jedoch, dass die Lyrik "in der Verfilmung seit jeher eine lediglich marginale Rolle spielt".

Gedicht- und Poesiefilm

Dabei lagen die Verhältnisse in den Anfängen des Films anders. Die abendfüllenden Streifen mit ihre Vorliebe für das Erzählen verdrängten die im Stummfilm durchaus vorhandenen Schnittpunkte mit der Lyrik. Gerade die damals gängigen Kurzfilme eigneten sich für eine medienübergreifenden Zusammenarbeit. Die künstlerische Avantgarde war für den Poesiefilm offen. So plädierte der französische Dichter Guillaume Apollinaire, lyrische Texte in optische und akustische Bereiche auszuweiten.

Zwei Beispiele für einen Poesiefilm - aus alter wie aus neuer Zeit - erreichen Sie mit den folgenden Links:

Aus den Anfängen des Films stammt Charlie Chaplins Kurzfilm. The Face On The Barroom Floor aus dem Jahr 1914 legt die gleichnamige Ballade von Hugh Antoine d'Arcy zugrunde. Bertolt Brecht hat diese Episode wiederum als Vorlage für sein Gedicht "Ein Film des Komikers Chaplin" gewählt.

Sylvia Steinhäuser: Rainer Maria Rilkes Gedicht "Das Karussell"

Das zweite Beispiel ist 2003 als Diplomarbeit über Poesie und filmische Kurzformen entstanden. Sylvia Steinhäuser kombiniert Rainer Maria Rilkes Gedicht "Das Karussell" mit Szenen aus der Castingshow "Deutschland sucht den Superstar". In der Umsetzung zeigt sich dieses Karussell trotz seiner zeitkritischen Perspektive leicht und beschwingt. Hier können Sie noch weitere Foto- und Filmarbeiten von Sylvia Steinhäuser finden.

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Als Quelle für die Newsletter-Beiträge diente insbesondere das grundlegende Poesiefilm-Buch von Stefanie Orphal: "Lyrik im audiovisuellen Medium" [Amazon-Link]
Der Ort, an dem der Poesiefilm zuhause ist: beim ZEBRA Poetry Film Festival auch im Haus für Poesie | ZEBRA Poetry Film


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